Das Buch Reise auf der S.M.S. Möwe von Johannes Wilda ist als Digitalisat in der Universitätsbibliothek Kiel verfügbar. Es bietet detaillierte Einblicke in die Reisen des Kanonenboots S.M.S. Möwe durch die damaligen deutschen Kolonien. Bislang völlig unreflektiert finden sich Informationen zu Autor und Werk im Internet. Auch die Lektüre des Buches ist bislang noch völlig ohne eine kritische Einordnung der aus heutiger Perspektive hoch problematischen Schilderungen im Netz.
In unserem Citizen-Science-Projekt laden wir dazu ein, sich kritisch mit der bislang fehlenden Reflexion und Einordnung des Romans auseinanderzusetzen und durch eigene Analysen, Kontextualisierungen und die Bereitstellung ergänzender Materialien, die historischen und kulturellen Hintergründe sichtbar zu machen.
S.M.S. Möwe, Vermessungsschiff
Was bedeutet ‚postkolonial‘?
Die postkoloniale Theorie untersucht, wie koloniale Machtverhältnisse und Denkweisen historische und gegenwärtige gesellschaftliche Strukturen beeinflussen. Sie hinterfragt Darstellungen und Narrative, die während der Kolonialzeit entstanden sind und oft stereotype oder abwertende Bilder von kolonisierten Menschen und Ländern vermitteln. Ziel ist es, diese kolonialen Denkmuster zu erkennen, zu dekonstruieren und ein Bewusstsein für deren fortwährende Präsenz in Kultur, Literatur und Alltag zu schaffen.
Johannes Wilhelm Wilda (*22. Februar 1852 in Breslau; †9. Juli 1942 in Potsdam) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller mit tiefen Verbindungen zur Stadt Kiel und ihrer Universität. Als Sohn des Juristen Wilhelm Eduard Wilda zog er 1854 mit seiner Familie nach Kiel, nachdem sein Vater einen Ruf an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angenommen hatte. In Kiel besuchte Johannes Wilda das Gymnasium, bevor er eine Laufbahn als Marineoffizier anstrebte. (Vgl. Wikipedia)
Wilda und die S.M.S. Möwe
Seine militärische Karriere führte ihn auf verschiedene überseeische Expeditionen, unter anderem auf die S.M.S. „Möwe“, ein Kanonenboot der Kaiserlichen Marine. Diese Reisen brachten ihn in Kontakt mit den damaligen deutschen Kolonialgebieten, insbesondere in Papua-Neuguinea. Nach seiner aktiven Dienstzeit wandte sich Wilda dem Journalismus und der Schriftstellerei zu und veröffentlichte zahlreiche Reiseberichte und Romane, die seine Erfahrungen und Eindrücke aus den Kolonien widerspiegelten. (Vgl. Wikipedia)
Wilda und Kiel
Die enge Verbindung von Johannes Wilda zu Kiel, seiner Universität und der Marine macht ihn zu einer bedeutenden Figur in der postkolonialen Geschichte der Stadt. Seine Werke bieten Einblicke in die kolonialen Denkweisen und Praktiken des Deutschen Kaiserreichs und sind daher für die postkoloniale Forschung und Aufarbeitung in Kiel von Interesse. Die Stadt Kiel setzt sich heute aktiv mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinander, unter anderem durch Projekte wie „Kiel Postkolonial“, die darauf abzielen, koloniale Spuren im Stadtbild sichtbar zu machen und eine kritische Erinnerungskultur zu fördern. (Vgl. Landtag Schleswig-Holstein)
Kritik und Werk – Postkoloniale Lektüre
Was meint ‚postkoloniale Lektüre‘?
Postkoloniale Lektüre bedeutet, literarische Texte kritisch im Hinblick auf die Darstellung von Machtverhältnissen, kultureller Überlegenheit und kolonialen Ideologien zu analysieren. Ziel ist es, koloniale Denkmuster zu entlarven und den historischen Kontext sowie dessen Auswirkungen auf heutige Gesellschaften zu reflektieren.
Sowohl der Wikipedia-Eintrag als auch die Händlerseiten reflektieren die postkolonialen Inhalte des Buches nicht und verschweigen somit die problematischen Aspekte.
Der Wikipedia-Artikel bietet eine biografische Übersicht über Wildas Leben und Werk. Es wird erwähnt, dass er enge Beziehungen zur Kaiserlichen Marine hatte und an mehreren Reisen, unter anderem auf der Möwe, teilnahm. Reise auf S.M.S. Möwe wird in der Liste seiner Werke aufgeführt. Allerdings fehlt eine kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Buches, insbesondere hinsichtlich postkolonialer Aspekte oder der Verwendung rassistischer Sprache.
Auf Verkaufsplattformen wie Amazon wird das Werk hauptsächlich mit bibliografischen Daten präsentiert: Titel, Autor, ISBN und manchmal ein kurzer Klappentext. Diese Beschreibungen konzentrieren sich auf den Reiseberichtcharakter des Buches und erwähnen die Schauplätze in den damaligen deutschen Kolonien. Eine inhaltliche Analyse oder Hinweise auf problematische Darstellungen fehlen in der Regel. Beispielsweise wird in der Produktbeschreibung lediglich der Titel Reise auf S.M.S. Möwe: Streifzüge in Südseekolonien und Ostasien genannt, ohne weitere Kontextualisierung.
Die folgenden Textpassagen enthalten diskriminierende und rassistische Begriffe, die die kolonialistische Weltanschauung der damaligen Zeit widerspiegeln. Diese Zitate werden hier bewusst in ihrem historischen Kontext gezeigt, um die Mechanismen rassistischer Darstellung kritisch zu analysieren.
aus: 1. Kapitel. An Bord S.M.S. „Möwe“ von Hongkong nach den Sulu-Inseln in: Wilda, Reise auf der S.M.S. „Möwe“, S. 61.
aus: 1. Kapitel. An Bord S.M.S. „Möwe“ von Hongkong nach den Sulu-Inseln in: Wilda, Reise auf der S.M.S. „Möwe“, S. 62.
Der Ausdruck „negerhaftem Typus“ ist ein eindeutiger rassistischer Begriff, der Menschen auf vermeintliche physische Merkmale reduziert und koloniale Hierarchien sprachlich zementiert.
Diese Formulierung diente in der Kolonialzeit dazu, Personen anhand vermeintlicher äußerlicher Merkmale ethnisch zu kategorisieren und abzuwerten.
Abwertende Beschreibungen und Diskriminierung:
Die körperliche Beschreibung des Mannes als „fetter alter Genüßling“, mit „hängendem Schmerbauch“, „kleinen schielenden listigen Augen“ und „breitem dicken Mund“ ist abwertend und vermittelt ein negativ konnotiertes Bild.
Wilda nutzt diese Merkmale, um eine unangenehme und unmoralische Figur zu konstruieren, die beim Leser Ekel oder Verachtung hervorrufen soll.
Exotisierung und Orientalismus:
Der Vergleich mit einem „arabischen Sklavenhalter“ und einem „altrömischen Senator“ verstärkt exotisierende und stereotype Bilder.
Diese Bezüge schaffen eine distanzierende Darstellung des Mannes als „Anderen“, der durch eine vermeintliche Nähe zu fremden Kulturen (Orientalismus nach Edward Said) in eine kulturelle und moralische Hierarchie eingeordnet wird.
Wilda konstruiert durch diese Zuschreibungen eine hybride, negativ besetzte Figur, die in keiner Weise positiv dargestellt wird.
Othering und Machtverhältnisse:
Der Erzähler nimmt die Perspektive eines kolonialen Betrachters ein, der durch seine Wortwahl eine klare Trennung zwischen „zivilisiert“ und „unzivilisiert“ zieht.
Die Sprache betont ein „Othering“, indem die beschriebenen Eigenschaften bewusst fremdartig und unangenehm gestaltet werden, um kulturelle Überlegenheit der Kolonialmacht zu implizieren.